Beim Schatz des Monats Juni 2025 handelt es sich um einen Krieger mit Migrationshintergrund aus der Sammlung des Instituts für Klassische Archäologie.
Im Frühjahr 1895 schlenderte der Archäologe Adolf Furtwängler durch das bayerische Nationalmuseum in München, als ihm eine seltsame Skulptur ins Auge fiel. In bräunlichem Stein waren da, knapp anderthalb Fuß hoch, Oberkörper und Kopf einer behelmten Kriegerfigur wiedergegeben, mit Resten einer Lanze in der Rechten und eines mittig vorgehaltenen Rundschilds, den das Schreckensgesicht der Gorgo Medusa einnahm. Die Skulptur war als „Athena“ ausgewiesen und aufgrund ihrer schlichten Machart im Saal der provinzialrömischen Altertümer aus deutschen Landen aufgestellt.
Furtwängler, frisch an die Universität München berufen und der prominenteste, produktivste, feurigste Archäologe seiner Generation, war sich rasch sicher: Unfug, die Figur musste ein frühgriechisches Werk sein! An dem Stein ließ er – ganz technikbegeisterter Fortschrittsmensch seines Zeitalters – Analysen vornehmen und plädierte aufgrund geologischer Vergleiche für eine Herkunft aus Mykene, der bronzezeitlichen Zitadelle, die nach antiker Tradition Sitz des Agamemnon gewesen war. Laut Homers Ilias (XI, 36-37) war Agamemnons Schild mit dem „struppigen Antlitz der schrecklich starrenden Gorgo“ versehen... konnte die Münchner Statue etwa, fragte Furtwängler – und wusste, dass er sich weit aus dem Interpretationsfenster lehnte – eine Darstellung des mythischen Heerführers sein, die man um 600 v. Chr. in Mykene vor seinem vermeintlichen Grab aufgestellt hatte? Rasch brachte er seine These zu Papier, 1896 erschien sie als Aufsatz. Und sie ist ja auch verlockend: Schließlich interessiert man sich im Griechenland des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr. brennend für die bronzezeitliche Vergangenheit; stellenweise entstehen Heroenkulte an ihren Grabmonumenten – warum nicht auch mit Statuenschmuck?
Es war ein gewitzter junger Mann aus Hessen, gerade 23 Jahre alt, der dem großen Furtwängler einen Strich durch die Deutung machte: Carl Watzinger hielt sich gerade als Stipendiat des Deutschen Archäologischen Instituts an dessen Athener Zweigstelle auf, als er im Jahre 1900 ein seltenes Buch aus dem Regal zog und einen Glücksfund tat. Ein deutscher Reisender, Wilhelm Dorow hatte 1827 die von Furtwängler so eindrucksvoll bestimmte Statue im italienischen Chiusi erworben und später mit einer Abbildung veröffentlicht. Wie sie dann nach München gelangt war, ließ sich nicht klären und ist im Übrigen bis heute unbekannt.
Dem jungen Mann, der sich mit seiner Richtigstellung keck und kenntnisreich hervorgetan hatte, stand eine glänzende Karriere bevor, mit Forschungsreisen nach Russland und in den Orient, Rufen an die Universitäten Rostock, Gießen und schließlich 1916: Tübingen. Hier hat Carl Watzinger bis kurz vor seinem Tode 1948 gelehrt; auf dem Tübinger Bergfriedhof liegt er begraben. Die von ihm mit Hingabe betreute archäologische Sammlung aber – heute auf Schloss Hohentübingen ausgestellt – hat vor wenigen Jahren einen Abguss jener Figur erworben, zu der er einst sein Gesellenstück ablieferte. Restaurator Sönmez Alemdar hat den weißen Gips gefühlvoll abgetönt (mit Filterkaffee) und ihm so den Farbton des Originals verliehen.
Keine bayerische Athena also, aber auch kein mykenischer Agamemnon, sondern ein etruskischer Krieger: Der Helmträger mit dem abschreckenden Rundschild ist im Laufe seiner Deutungen an wahrlich unterschiedliche Fronten gestellt worden und hat dabei halb Europa durchwandert. Zuletzt hat man ihn als Grabwächter angesprochen, doch ist auch die Wiedergabe eines Verstorbenen nicht ausgeschlossen. Um 580/70 v. Chr. entstanden, ähnelt er im Stil einer Büste in Kopenhagen, die sicher auch aus Chiusi stammt, aber 1911 mit der Provenienz „Libanon“ erworben wurde. Es hat eben gedauert, bis man die etruskische Formensprache als solche zu erkennen gelernt hat. So lehrt unser Krieger auch eine Lektion in Demut: Irren gehört zur Wissenschaft, auch für ihre Heroen.
Dr. Alexander Heinemann