Beim Schatz des Monats August 2025 handelt es sich um einen bemalten Gipsabguss der palauischen Baigeschichte „Streit“ aus der Ethnologischen Sammlung, der 1906/1909 von Elisabeth Krämer-Bannow angefertigt wurde.
Ein Boot, ein Baum, ein Haus, zwei streitende Frauen – und dazwischen: Ratten und Katzen. Die Geschichte, die dieser bemalte Gipsabguss erzählt, stammt aus Palau, einem Inselstaat im westlichen Pazifik. Sie ist Teil einer palauischen Erzähltradition in Form von kunstvollen Holzschnitzereien an den Querbalken der sogenannten bai – Männer-Versammlungshäuser. Der hier zu sehende Ausschnitt zeigt einen Teil des bemalten Gipsabgusses, den die Künstlerin und Ethnologin Elisabeth Krämer-Bannow (1874–1945) auf der Insel Babeldaob (heute Bundesstaat Ngaraard) anfertigte.
Die Szene zeigt zwei Frauen im Konflikt: Eine versucht, die Ernte ihrer Rivalin zu zerstören, indem sie Ratten auf deren Taro-Feld hetzt. Diese wiederum wehrt sich, indem sie Katzen losschickt. Während Ratten in der traditionellen Kultur Palaus als Sinnbild für Unreinheit gelten, werden Katzen mitunter mit Schutz und Glück assoziiert. Solche logúkl, wie diese Verzierungen an den bai genannt werden, vereinen künstlerischen Ausdruck mit humorvoller Erzählkunst. Zugleich greifen sie soziale Normen und kulturelle Wertvorstellungen auf und werden so zu einem Medium kollektiver Erinnerung.
Die bai selbst waren zentrale Orte des sozialen Lebens in palauischen Dörfern. In ihnen versammelten sich entweder die höchsten Würdenträger eines Ortes zu Beratungen oder sie dienten als Wohnstätte für unverheiratete junge Männer. Diese beiden Nutzungsarten wurden strikt getrennt. In der Regel lebten für etwa drei Monate auch Frauen, sogenannte mongol, in den bai. Sie gingen dort häufig Liebesbeziehungen mit einem der Männer ein und erhielten für ihren Aufenthalt eine Entlohnung in Form des traditionellen palauischen Perlengeldes. Die bai waren auch Ausdruck künstlerischer Gestaltungskraft: Bemalte Reliefs zierten sowohl die Außenwände als auch die Querbalken im Inneren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in fast jedem Dorf Palaus ein solches Männerhaus. Heute existieren nur noch fünf erhaltene Exemplare, eines davon rekonstruiert.
Elisabeth Krämer-Bannow „sammelte“ während der „Hamburger Südsee-Expedition“ (1908–1910) systematisch visuelles und ethnografisches Material. Als einzige Frau im wissenschaftlichen „Expeditionsteam“ und als Ehefrau des „Expeditionsleiters“ Augustin Krämer erhielt sie Zugang zu weiblichen Lebenswelten, die den männlichen „Expeditionsteilnehmern“ weitgehend verschlossen blieben. Sie fertigte nicht nur Fotografien und Aquarelle sowie Zeichnungen der Verzierungen an, sondern auch detailreiche sogenannte Abklatsche von geschnitzten Balken. Dafür benutzte sie ein mit lehmartiger Masse präpariertes Papier, um die reliefierten Oberflächen vorsichtig abzunehmen. Die so entstandenen Abdrücke goss sie anschließend mit Gips aus, überzog sie mit Kalk und bemalte sie mit lokal üblichen Farben wie rotem Ocker und Ruß. So entstanden farbige Repliken, die den Originalen in Farbe und Form sehr nahekommen. Die Methode ermöglichte es, die Schnitzkunst dauerhaft zu bewahren, obwohl viele der Häuser, von denen die Formen stammen, längst nicht mehr existieren.
Die palauischen Inseln selbst waren zur Zeit der „Expedition“ Teil des deutschen Kolonialgebietes. Nachdem Spanien 1898 seine pazifischen Kolonien infolge des Spanisch-Amerikanischen Kriegs verloren hatte, übernahm das Deutsche Kaiserreich Palau als Teil von „Deutsch-Neuguinea“. Während die deutsche Kolonialherrschaft vor Ort relativ kurz war – sie endete mit dem Ersten Weltkrieg – hinterließ sie dennoch bleibende Spuren in der Infrastruktur, Verwaltungsstruktur und Missionierung der Menschen. Auch gesellschaftliche Praktiken wie der Aufenthalt der mongol in den bai gerieten unter koloniale Kontrolle: 1905 wurde dieser Brauch durch die deutsche Kolonialregierung verboten und verschwand in der Folge. Die „Hamburger Südsee-Expedition“ war Teil dieses kolonialen Projekts. Ihr Ziel war es, umfassende kulturelle, biologische und geographische Informationen über die deutschen „Südseegebiete“ zu sammeln – aus wissenschaftlichem Interesse, aber auch zur Festigung kolonialer Herrschaftsansprüche.
Trotz ihres Engagements in diesem kolonialen Kontext nimmt Elisabeth Krämer-Bannow innerhalb des „Expeditionsteams“ eine besondere Rolle ein. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch Beobachtungsgabe, künstlerisches Können und einen speziellen Blick auf das Alltagsleben vor Ort aus. Ihre Zeichnungen, Fotografien und Abklatsche dokumentieren nicht nur Bauformen und Erzähltradition – sie geben auch Einblicke in weibliche Lebensbereiche, die sonst in der damaligen Ethnografie kaum Beachtung fanden.
Der hier gezeigte Balkenabguss „Streit“ ist Teil der Ethnologischen Sammlung der Universität Tübingen, die 1931 durch die Übergabe der Privatsammlung des Ehepaars Krämer erweitert wurde. Er steht exemplarisch für die komplexe Verflechtung von palauischem Kunsthandwerk, Wissen und kolonialer Aneignung sowie für die stille und künstlerische Wirkmacht einer Frau, deren Blick vielen der Geschichten ihre heutige Sichtbarkeit ermöglicht hat.
Seit dem 28. Juli 2025 ist der farbige Gipsabguss dieser vollständigen Bildergeschichte im Museum Weltkulturen auf Schloss Hohentübingen wieder öffentlich zu sehen. Weitere Einblicke in das Werk Elisabeth Krämer-Bannows, in palauisches Kunsthandwerk und in die koloniale Vergangenheit Palaus bietet die Online-Ausstellung Koloniale Schatten – Das palauische Vermächtnis der Elisabeth Krämer-Bannow in Tübingen.
Diellëza Hyseni


