Beim Schatz des Monats August 2023 handelt es sich um eine Statue, die den Athener Komödiendichter Menander (342-290), zeigt.
Ruhig, fast in sich gekehrt, sitzt ein Mann in einem Lehnstuhl. Alles an seiner Erscheinung weist auf einen gediegenen, ja luxuriösen Habitus und lifestyle hin: das dicke, nach den Seiten überhängende Kissen, das feine Ärmelgewand unter dem Mantel, die glatte Rasur, das schon zurückweichende, aber wohlfrisierte Haar. Der Kopf ist gesenkt; der Blick des reifen Männergesichtes mit den markant eingegrabenen Zügen geht sinnend zur Seite. Die Unterarme der gut lebensgroßen Statue sind nicht erhalten, doch was immer die Hände hielten, mit den Gedanken ist der Dargestellte ohnehin anderswo.
Wer ist dieser nicht mehr junge, aber noch lange nicht greisenhafte Mann? Seine prägnanten Züge sind uns in über 70 – zum Teil stark untereinander abweichenden – antiken Bildnisköpfen überliefert, alles sogenannte Repliken eines offenbar ebenso bekannten wie beliebten Porträts (eine dieser Repliken ist ebenfalls in unserer Sammlung vertreten und steht hier im Rittersaal, wenn auch nicht allein…). Dank einiger weniger beschrifteter Exemplare, können wir den Dargestellten mittlerweile sicher benennen. Es handelt sich um den Athener Komödiendichter Menander (342-290), zu Lebzeiten leidlich erfolgreich, nach seinem Tode und bis in die Spätantike aber einer der meistgelesenen antiken Autoren überhaupt.
Die zahlreichen Wiederholungen seines Porträts weisen auf die Existenz einer prominenten Vorlage hin, und tatsächlich ist bei den Ausgrabungen im Athener Dionysos-Theater am südlichen Abhang der Akropolis eine große, mindestens 1,50m hohe Basis aufgefunden worden, die nach Ausweis ihrer Inschrift eine wohl bronzene Statue des Menander trug. Nach dieser Statue, die die Athener wohl bald nach dem Tod des Dichters am Ort seines dramatischen Wirkens aufstellten – gewissermaßen eine postume Ehrung fürs Lebenswerk –, dürften die heute erhaltenen Kopien des Kopfes und die weitaus selteneren des gesamten Statuenkörpers angefertigt worden sein.
Allerdings ist keiner der vielen Porträtköpfe mit seinem ursprünglichen Körper überliefert, an keinem Statuentorso der originale Kopf erhalten. So hat es einigen archäologischen Spürsinns bedurft, bis ihre Zusammengehörigkeit aufgrund von Übereinstimmungen im Faltenwurf und des Nackenhaars festgestellt werden könnte. 1990 gelang schließlich dem Göttinger Archäologen Klaus Fittschen 1990 aus Gipsabgüssen nach einem Kopf in Venedig und einem Statuentorso in Neapel die Rekonstruktion einer Statue, die eigentlich schon verloren war. Seit 2012 steht ein solcher rekonstruierter Abguss auch im Museum Alte Kulturen auf Hohentübingen; deutlich erkennbar ist daran noch immer die Naht zwischen dem Torso und dem Kopf, dessen Brustausschnitt noch besonders viel von der ursprünglichen Gewandung überliefert.
In der ursprünglichen Aufstellung waren die Füße der Statue etwa auf Augenhöhe des Betrachters; Menander stand den Besuchern des Dionysos-Theaters also nicht, wie die Aufstellung des Tübinger Gipses suggerieren könnte, in einem unmittelbaren Auf-Du-und-Du gegenüber, sondern war als literarische Größe herausgehoben und den am gleichen Ort errichteten Statuen der großen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides an die Seite gestellt. Zugleich zeigte ihn das Bildnis lebensnah als Zeitgenossen: Die Mode der Bartlosigkeit auch im reiferen Mannesalter scheint Menander als einer der ersten von den Herrschern in der Nachfolge Alexanders des Großen übernommen zu haben, und in seinem relaxten und luxuriösen Habitus spiegelt sich etwas von dem Ruf des stilbewussten Stutzers wider, den mehrere Anekdoten für ihn überliefern. Die Wiedergabe auf dem Lehnstuhl hat man in diesem Sinne als Herausstellung eines zurückgezogenen Lebensstils deuten wollen; zugleich erinnert die vertiefte Haltung auf dem Sitzmöbel an die ganz ähnliche Inszenierung der Verstorbenen auf früheren athenischen Grabreliefs (vgl. hier ein Weihrelief in der Fensternische schräg gegenüber). Ein weiterer Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Aufstellungsort der Statue, waren doch im Dionysos-Theater, die Sitze der wichtigsten städtischen Ehrenträger in gleicher Weise als marmorne Lehnstühle gestaltet. So hätten die Athener den Menander zumindest im Nachhinein unter ihre Honoratioren aufgenommen. Es war nicht das erste Mal, dass die Auszeichnung eines Toten leichter fiel als die eines Lebenden.
Dr. Alexander Heinemann