Beim Schatz des Monats April 2023 handelt es sich um eine Ikone der Eiszeitkunst: Das Pferd vom Vogelherd.
Altsteinzeitliche Kunstwerke liegen oft nicht vollständig vor. Der Elfenbeinschnitzer Bernhard Röck und die Prähistoriker Sibylle Wolf, Nicholas Conard, Harald Floss und Ewa Dutkiewicz verfolgten ab 2020 das Ziel, eiszeitliche mobile Kunstwerke im Originalmaterial und in Originalgröße nachzuschnitzen. Die Gruppe hat sich intensiv mit den 23 ausgewählten figürlichen Kunstwerken beschäftigt, die zwischen 42 000 und 12 000 Jahre alt sind und fast alle Beschädigungen aufweisen. Wir haben die teils bruchstückhaft überlieferten Figuren rekonstruiert, um diese in ihrem ehemaligen vollständigen Zustand zu zeigen. Neun Elfenbeinschnitzer haben mit modernen Methoden in Erbach/Odenwald die Urform dieser Figuren – also vor ihrer Beschädigung – geschaffen.
Der Erhaltungszustand der Figurinen wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst und ist unter anderem materialabhängig. Während Stein je nach Varietät oft gut erhalten ist, unterliegen so genannte organische Werkstoffe, wie Knochen, Geweih oder Elfenbein Verwitterungsprozessen. Besonders Elfenbein hat die Eigenschaft, in konzentrische Ringe und Lamellen zu zerfallen. In der jüngeren Altsteinzeit hatten unsere Vorfahren Zugang zu zahlreichen Materialien, die sie mit Steinwerkzeug bearbeiteten. Sie nutzten vor allem Mammutelfenbein, Geweih, Zähne, Gagat, Bernstein und weiches Gestein wie Speckstein, Kalkstein oder Schiefer für die Herstellung von kleinen Figuren. Die frühesten Hinweise auf das Brennen von Ton sind etwa 32 000 Jahre alt.
Vom Beginn der jüngeren Altsteinzeit, zwischen 42 000 und 32 000 Jahren vor heute (Kultur des Aurignaciens), kennen wir aus Europa die ersten figürlichen Kunstwerke. Dabei handelt es sich meist um Tierfiguren. In der nachfolgenden Kultur, dem Gravettien zwischen etwa 32 000 und 22 000 Jahren vor heute, prägen vollplastische Frauenfigurinen die Eiszeitkunst. Im Magdalénien zwischen etwa 19 000 und 14 000 Jahren vor heute erlebt die Eiszeitkunst ihre größte Blüte und Alltagsgegenstände werden häufig verziert. Frauenstatuetten werden stilisiert dargestellt. Zum Ende der Eiszeit hin, bis vor etwa 12 000 Jahren, nimmt das Kunstschaffen nach heutigem Kenntnisstand deutlich ab, obwohl noch Figuren geschnitzt werden.
Eiszeitkunst fasziniert uns Menschen seit jeher – die den Original-Figuren nachempfundenen Schnitzereien beeindrucken unter anderem durch ihre Formen, die wir als modern und aktuell empfinden. Wir fassen hier zum ersten Mal in der Geschichte die Wurzeln des Berufs der Elfenbeinschnitzer vor rund 40 000 Jahren.
Heutige Elfenbeinschnitzer und Archäologen profitieren voneinander und tauschen das jeweilige Fachwissen aus. Hier ist die nachgeschnitzte Pferdefigur aus der Vogelherd-Höhle bei Niederstotzingen zu sehen. Das Original ist etwa 40 000 Jahre alt und misst 4,8 cm in der Länge Es wurde aus Mammutelfenbein geschnitzt und ist im Museum der Universität Tübingen MUT | Alte Kulturen zu sehen.
Die 23 nachgeschnitzten Kunstwerke sind in der Wanderausstellung „Urformen – Figürliche Eiszeitkunst Europas“ zu sehen, die vom Weltkultursprung getragen wird. Die Ausstellung tourt momentan durch Europa. Aktuell ist sie im Stadtmuseum Wiesbaden präsentiert. Die Texte sind in deutscher, englischer, französischer und russischer Sprache verfasst. Alle Informationen zur Ausstellung und das Begleitheft zum kostenlosen Download finden Sie hier: https://www.weltkultursprung.de/gut-zu-wissen/wanderausstellung/
Dr. Sibylle Wolf, Prof. Nicholas Conard, Ph.D., Apl. Prof. Dr. Harald Floss und Dr. Ewa Dutkiewicz