In regelmäßigen Abständen stellt die Graphische Sammlung des Kunsthistorischen Instituts (KHI) Tübingen druckgraphische Schätze aus ihrer Sammlung vor. Im März berichtet Chrysoula Kalpakidou über ein Werk von Käthe Kollwitz.
(Ver-)Zweifeln
Eine Gemütsbewegung, formiert aus dunklen Linien, prägt das Selbstbildnis von Käthe Kollwitz (1867-1945) aus dem Jahr 1910. Grüblerisch, beinahe verzagt, blickt die Künstlerin mit ihren halb in der Dunkelheit verborgenen Augen die Betrachtenden an. Diese schauen ihrerseits in das Gesicht eines in sich gekehrten, zweifelnden oder gar verzweifelnden Menschen, dessen Welt unaufhaltsam auf den Ersten Weltkrieg zusteuert. Während die Haare, der Hals und die Schulterpartie mit einer spontan wirkenden Linienführung konturiert werden, ist die Gesichtspartie dichter und detaillierter bearbeitet. Schonungslos stellt Käthe Kollwitz so mithilfe von Mimik, Gestik, aber auch der druckgraphischen Technik der Radierung ihren emotionalen (Ausnahme-)Zustand zur Schau.
In besonderer Weise betont die ungewöhnliche Darstellung zugleich jene kreative, für die künstlerische Praxis fundamentale Verbindung von Hand und Kopf, die seit der Frühen Neuzeit immer wieder zum Thema bildimpliziter Kunsttheorie wurde und in den späteren Werken Kollwitz’ wiederholt anzutreffen ist. Mit dem Blatt reflektiert die deutsche Graphikerin, Malerin und Bildhauerin nicht nur dezidiert ihre Rolle als mahnende Beobachterin des zeitgenössischen sozialen Elends, der Revolte und des Unheils des drohenden Krieges. Die Radierung fungiert darüber hinaus als komplexe Selbststudie, in der das (Ver-)Zweifeln des künstlerischen Individuums angesichts der Grausamkeit und Trostlosigkeit der Gegenwart manifest wird.
Text: Chrysoula Kalpakidou
Bild: Käthe Kollwitz: Selbstbildnis mit Hand an der Stirn, 1910, Radierung, 155 x 125 mm (Platte), 328 x 237 mm (Blatt), Tübingen, Graphische Sammlung am Kunsthistorischen Institut, Inv. Nr. 7823.
Zum Projekt #offeneSchublade:
Mit über 12 000 Drucken und Zeichnungen aus sechs Jahrhunderten gehört die 1897 gegründete Graphische Sammlung am Kunsthistorischen Institut der Universität Tübingen zu den umfangreichsten und ältesten Universitätssammlungen dieser Art in Deutschland. Neben Highlights wie Graphiken von Dürer, Rembrandt und Picasso warten in den Schränken zahlreiche weitere Kunstwerke auf Papier darauf, (neu-)entdeckt zu werden. Die Graphische Sammlung öffnet deshalb ab September 2021 jeden Monat einmal ihre Schubladen und lädt MitarbeiterInnen, StudentInnen und FreundInnen des KHI und des MUT herzlich ein, unter #offeneschublade ein ausgewähltes Blatt aus den Beständen zu präsentieren.