Die 1000 Namen Vishnus – Die Miniaturen

Im Zentrum der Präsentation stehen die zwei hinduistischen Andachtsbücher. Die beiden Handschriften stammen aus dem frühen 19. Jahrhundert und umfassen rund 500 und 700 Seiten. Sie enthalten mehrere Sanskrittexte, darunter jeweils die berühmte Bhagavadgītā, den „Gesang des Erhabenen“, und die „1000 Namen Vishnus“ sowie ausgezeichnet erhaltene, farb- wie ausdrucksstarke Miniaturen mit Szenen aus der Mythologie um die indischen Götter Vishnu und Shiva.  Bei den Sanskrittexten der Handschriften handelt es sich um Andachtsliteratur, die Texte werden von den Gläubigen laut gesprochen oder gesungen: den Göttern Vishnu und Shiva wird mit Preisliedern gehuldigt.

Die in den beiden Handschriften enthaltenen Miniaturen sind ein Beispiel für die indoislamische Kunst, die sich im 15. bis 19. Jahrhundert auf dem Subkontinent unter der Herrschaft der Mogulkönige und persischem Einfluss ausbildete. Wichtige Merkmale sind der feine Pinselstrich, der Bildaufbau, die Farbigkeit der Pigmente sowie Szenen aus dem höfischen Alltag oder der hinduistischen Mythologie. Gesichter sind meist im Profil zu sehen, bisweilen findet sich die frontale Ansicht des dargestellten Gottes. Letzteres ist ein Indiz für die Verwendung der „Andachtsbücher“, sucht doch ein Gläubiger den als Darshan bezeichneten Blickkontakt mit dem Göttlichen. Gezeigt werden Szenen aus den Mythen um die Götter Vishnu und Shiva mit Motiven aus den Epen Mahābhārata und Rāmāyaṇa. Die Bilder stehen in direktem Bezug zu den verschiedenen Texten der Sammelhandschriften und leiten sie jeweils ein.

Im Folgenden werden die einzelnen Miniaturen und ihr Inhalt durch Beschreibungen des Tübinger Indologen Heinrich von Stietencron (1933-2018) vorgestellt.



Ma I 893, Bild 1 [115v] und Ma I 894, Bild 2 [89v]

Der Krieger Arjuna (links) hat seinen Bogen und Köcher niedergelegt und steht verehrend vor dem Gott Krishna/Vishnu, der sich ihm in seiner alles Dasein umfassenden Gestalt offenbart. Unter den im Gott Krishna/Vishnu enthaltenen Wesen sind zu oberst auch die Götter Brahma (4-köpfig), Vishnu (blau) und Shiva (weiß) erkennbar. Ferner befinden sich unter den Wesen auch der Auftraggeber des Künstlers mit seiner Frau. Die Szene findet eigentlich vor Beginn der Schlacht auf dem Streitwagen des Arjuna statt, wurde aber vom Künstler in das Innere eines Palastes verlegt.


Ma I 893, Bild 2 [194-1v oder 194-2v]

Illustration zum Viṣṇusahasranāmārcitam, einer Verehrung Vishnus mit tausend Namen. Das Bild zeigt den Beginn einer neuen Weltschöpfung durch den Gott Vishnu, der auf die 1000-köpfige Schlange Shesha gebettet auf den kosmischen Wassern ruht. Zu seinen Füßen sitzt Vishnus Gemahlin Lakshmī, die ihn am rechten Fuß krault. Aus Vishnus Nabel ist ein Lotus entsprungen, aus dem der Gott Brahmā emporwächst, der sich anschickt, das Universum zu erschaffen. Dabei stellt er den Veda, das unerschaffene und unvergängliche heilige Wissen, an den Anfang der Schöpfung. Er hält Manuskripte vedischer Texte in zweien seiner Hände, während seine vier Köpfe in die vier Himmelsrichtungen blicken, in denen das Universum entstehen wird. Im Hintergrund rechts steht der Gott Shiva mit seiner Gemahlin Pārvatī, welche gemeinsam das Schöpfungsgeschehen halb neugierig, halb ehrfürchtig beobachten.


Ma I 894, Bild 4 [148v oder 149v]

Illustration zum Viṣṇusahasranāmastotram, einem Preislied an Vishnu unter Verwendung seiner 1000 Namen. Das Bild zeigt den Beginn einer neuen Weltschöpfung durch den Gott Vishnu, der auf die 1000köpfige Schlange Shesha gebettet auf den kosmischen Wassern ruht. Zu seinen Füßen sitzt Vishnus Gemahlin Lakshmī, die ihn am rechten Fuß krault. Aus Vishnus Nabel ist ein Lotus entsprungen, aus dem der Gott Brahmā emporwächst, der sich anschickt, das Universum zu erschaffen. Dabei stellt er den Veda, das unerschaffene und unvergängliche heilige Wissen, an den Anfang der Schöpfung. Er hält Manuskripte der vier Veden in seinen vier Händen, während seine vier Köpfe in die vier Himmelsrichtungen blicken, in denen das Universum entstehen wird.


Ma I 893, Bild 3 [194-2v] & Ma I 894, Bild 5 [149v]

Illustrationen zum Anfang der Bhagavadgītā. Krishna und Arjuna auf dem Streitwagen, der auf das Schlachtfeld von Kurukshetra hinausrollt. Arjuna ist mit einem Bogen bewaffnet, den er nach einem Kampf mit Shiva von diesem erlangt hatte. Sein Wagenlenker Krishna bläst die Schneckentrompete. Als jedoch Arjuna das feindliche Heer sieht, in dem viele seiner Verwandten stehen, zweifelt er am Sinn dieses Krieges und weigert sich, die Waffen gegen seine Verwandten zu erheben. In diesem Moment offenbart ihm Krishna die Bhagavadgītā, den Gesang des Erhabenen.


Ma I 894, Bild 10 [254v]

Rāma und seine Gemahlin Sītā mit dem Affengott Hanumān (links). Rechts steht ein Verehrer mit einem Fliegenwedel (vielleicht Bhārata, ein Halbbruder von Rāma). Diese Illustration steht am Anfang des Rāmagītā, einem Text aus dem siebten und letzten Buch des Rāmāyaṇa.


Ma I 894, Bild 11 [275v]

Rāma und Sītā, auf einem Thron sitzend, werden von dem Affenkönig Hanumān sowie seinen drei Halbbrüdern Bhārata (mit heller Hautfarbe und Fliegenwedel rechts), Lakshmana (mit Pfauenfeder, blau) und Shatrughna (ganz links) verehrt. Diese Illustration steht am Anfang des Śri-Rāmahṛdayastotra (dem Herzpreislied des Rāma, Teil des 1. Buches des Epos Rāmāyaṇa).


Ma I 894, Bild 1 [000v]

Das Bild gehört an den Anfang des Manuskriptes II. Das Zeichen für die Silbe Oṃ enthält die Götter Krishna/Vishnu (blau), Brahmā (vierköpfig), Shiva (weiß), Ardhanārīshvara (die androgyne Einheit von Shiva und Pārvatī, oben rechts) und Rudra (rot, unten rechts).


Ma I 894, Bild 3 [118v]

Shiva und Pārvatī im 1000-blättrigen Lotus, dem höchsten Kraftzentrum (Cakra) des menschlichen feinstofflichen Leibes, wo der Yogin durch Vereinigung mit Shiva seine Erlösung erlangt. Illustration am Ende von Kapitel 14 der Bhagavadgītā, das vom Weg zur Erlösung handelt.


Ma I 894, Bild 1 [000v]

Der tödlich verletzte greise Feldherr Bhīshma verehrt den vor ihm stehenden Gott Krishna/ Vishnu mit einem Preislied, dem Bhīṣmastavarāja, dessen Text an dieser Stelle im Manuskript folgt. Den Helden Arjuna, der links im Bild zu sehen ist, hat er gebeten, ihm ein, eines Kriegers würdigen, Lager aus Pfeilen zu machen und Arjuna ist dabei, diese Bitte zu erfüllen. Die Szene findet sich im Śāntiparvan des Mahābhārata.


Ma I 894, Bild 7 [302v]

Sadāshiva, der fünfköpfige und zehnarmige Shiva, hält Schwert, Lotusblüte, Keule und Bogen in seinen 4 hinteren rechten Händen, einen Wasserkrug, eine Fahne, ein Buch und einen Rosenkranz in den 4 linken Händen, während die beiden vorderen Hände eine symbolische Gebärde ausführen. Der Gott sitzt auf einem Tigerfell und eine Schlange ringelt sich um seinen Hals. Der heilige Fluss Ganges strömt vom obersten Kopf des Gottes Shiva herab auf die Erde. Zwei Brahmanen stehen, den Gott verehrend, ihm zur Linken und Rechten. Die Illustration steht am Anfang des Pañcākṣarastotra, eines Preisliedes, das die fünf Silben des Mantras „Namaḥ śivāya“ (Verehrung sei dem Shiva) zum Inhalt hat, von denen jede Silbe einem seiner fünf Köpfe zugeordnet ist.


Ma I 894, Bild 8 [206v]

Illustration, die am Anfang der Anusmṛti in das Manuskript eingefügt ist. Das Bild zeigt den blinden König Dhritarāshtra (sein Auge ist ohne Pupille dargestellt), dessen Söhne und Neffen sich im Epos Mahābhārata gegenseitig befehden und der sich das Geschehen auf dem Schlachtfeld von seinem Barden Sanjaya berichten lässt.


Ma I 894, Bild 9 [221v]

Gajendra-Moksha: Die Erlösung des Elefantenkönigs. Ein König, der ein glühender Verehrer Vishnus war, wurde aufgrund eines Fluches als Elefant wiedergeboren. Eines Tages, als er in einem See ein kühlendes Bad nehmen wollte, wurde er von einem Seeungeheuer am Bein gepackt und sollte in die Tiefe gezogen werden. In höchster Gefahr erinnerte er sich an sein voriges Dasein und an den Gott Vishnu und rief diesen, ihn preisend und ihm mit dem Rüssel Lotosblüten darbringend, zu Hilfe. Vishnu kommt augenblicklich, um seinen Verehrer zu befreien. Man sieht ihn mit seinem Reittier, dem Vogel Garuda, vor dem Elefanten stehen.


Ma I 894, Bild 12 [286v]

Shiva, auf einem Tigerfell sitzend, unterhält sich mit seiner Gemahlin Pārvatī. Die Figur ganz rechts ist wahrscheinlich der als Brahmane wiedergeborene himmlische Sänger Pushpadanta, der Verfasser einer berühmten Hymne an Shiva (Mahimnastotra), an deren Anfang diese Illustration steht.


Ma I 894, Bild 13 [305v]

Ardhanarīshvara. Shiva, dargestellt als identisch mit seiner Frau Pārvatī, vereinigt in sich eine männliche und eine weibliche Hälfte. Die männliche Hälfte (Shiva) ist weiß. Sie trägt das lange Haar des Asketen zu einem Schopf gebunden, ist mit einem Tigerfell bekleidet und hält den Dreizack (Symbol der Erkenntnis) und die Lotusblüte in den Händen. Die weibliche Hälfte (Pārvatī) hat den Kopf mit einer Krone und der Handsichel geschmückt. Sie ist mit Ohrringen und Perlenketten ausgestattet und trägt Kleider einer Frau. Die beiden Reittiere, der Stier des Shiva und der Tiger der Göttin, sind zu beiden Seiten dargestellt. Das Bild befindet sich am Anfang des neunzehnten Kapitels im letzten Buch des Padmapurāṇa.